Kartoffelküsse

Der Rabe auf dem Sportplatz schnappt sich eine Chipstüte und wirft sie zornig in die Luft. Nichts mehr drin. Aber fünf Schritte weiter liegen salzigscharfe Brosamen – oder eher Chipsamen? – an einem Haufen.

Der Rabe pickt und pickt. Dann krächzt er laut und fliegt in die Wiese. Er schimpft auf die Frau mit Hund, die ihn bei seiner Mahlzeit unterbrochen hat.

Kartoffeln sind gesund, sagen die Menschen. Aber nicht so salzig und nicht frittiert. Sie behaupten auch, dass Salz für Vögel schlecht sei. Wollen sie die Vögel auch noch bevormunden? Reicht es nicht, dass sie einander fortlaufend klar machen, was wem gut tut und was warum nicht?

Raben lassen sich nicht bevor-munden. Sie krächzen ohne Blatt vor dem Mund und fressen was vor den Schnabel fällt und gefällt. Schliesslich ist am Bach Wasser genug, sollte man Durst bekommen.

Der Rabe schwenkt anzüglich seine Schwanzfedern, stolziert um seinen Schatz herum und kontrolliert die Siedlung, ob etwa jemand seinen Reichtum bemerkt habe. Eine andere Rabendame zum Beispiel. Rabendame?

Seine Herzensdame sitzt auf dem Nest und brütet. Zeit, sie abzulösen und Gelegenheit ihr ein Stück Kartoffel als Gruss mitzubringen. Oder als Kuss. Als Kartoffelkuss.

Hoffnung

Bevor der November die Hoffnung auf sonnige Tage endgültig abwürgt, kaufe ich im Supermarkt die letzten Tulpenzwiebeln. Zuhause stecke ich sie in alle Töpfe auf dem Balkon und in die Rabatten ums Haus. Es ist meine letzte Tat vor der Winterdepression.

Dann kommt der Winter. Der Tod. Ich fühle mich wie eine dieser Zwiebeln. Begraben, der Kälte und dem Ungeziefer schutzlos ausgesetzt. Ich schlinge meine alte, erdbraune Strickjacke um mich oder ziehe mir die Bettdecke über den Kopf. Ausharren.

Was mich am Leben hält, sind die Tulpenzwiebeln. Sie werden sich regen und ausschlagen. Sie werden blühen. Und darauf hoffe ich jeden Winter, dass sich in mir etwas zu regen beginnt.

Es beginnt damit, dass ich nicht mehr friere. Dann verspüre ich unter den Bronchien ein hellgelbes Gefühl, als würde sich zerknülltes Papier entfalten. Bis zum ersten Lächeln kann es noch einen Tag oder zwei dauern. Aber es wird kommen.

In diesen Tagen ist noch nichts zu sehen von den Tulpen. Aber die Hoffnung verdichtet sich zu Gewissheit. Ich werde auferstehen, ich werde einen kurzweiligen Sommer erleben.

Wind

Was für ein Wind,
der Wind,
greift sich geschwind,
geschwind,
die Mütze vom Kind,
vom Kind.

Wühlt in den Haaren,
den Haaren,
der Dame von Jahren,
von Jahren,
nichts ist zu bewahren,
bewahren.

Morgenmeisen

Dem Regen zum Trotz ruft die Meise ihr Ziwit in den Morgen. Sie wird wohl einen trockenen Ast im Kastanienbaum haben. Plan A war, mit ihrem Partner das neue Nest weich zu polstern. Aber nun, da der Nieselregen fast in bassen Frühlingsschnee übergeht, wird man zum Plan B übergehen müssen. Und der heisst: futtern.

Bei diesem Wetter sind Insekten rar und im April findet sich in den meisten Futterhäuschen kein Korn mehr. Es bleibt der Weg vor dem Café. Natürlich haben die Raben gestern aufgeräumt, aber einige Krümel werden wohl übrig geblieben sein, man muss sie nur suchen. Und das bedeutet Gefahr.

Die Strasse ist das Revier der Rabenkrähen, der Katzen und Menschen. Hat schon jemand Meisen auf dem Boden gesehen? Meisen irren sich selten im einschätzen von Gefahren.

Das Meisenpaar hockt also auf der Kastanie und beobachtet. Ein Junge rennt durch das Geniesel ins Café. Etwas später eilt er mit einer Tüte unter der Jacke wieder davon. Dabei beisst er in ein frisches Gipfeli.

Sehr gut. Gipfeli geben viele Brosamen. Gleichzeitig fliegen sie los, um ein Stück der knusprigen Kruste zu erhaschen, bevor es weich ist und kehren sofort wieder in den sicheren Baum zurück.

Ihr kurzer Flug jedoch ist vom Raben bemerkt worden. Er fliegt auf, landet keck auf der Strasse vor dem Café und beginnt zu picken. Dabei stolziert er respektlos hin und her, bis jeder Krümel verschwunden ist, um krächzend in seinem Baum zu verschwinden.

Die Meisen rutschen nahe zusammen und trösten sich gegenseitig über das verdorbene Frühstück hinweg.

Alltag April

„Bei mir geschieht halt nichts besonderes,“ meint Mutter im Pflegeheim. Darum möchte sie so genau wissen, was bei uns läuft.

Bei uns geschieht auch nichts besonderes. Nur ist mein „nichts besonderes“ abwechslungsreicher als Mutters „nichts besonderes“.

Nichts besonderes heisst: Der Staub sammelt sich. Die Kleider werden schmutzig. Die Pillendosen, die ich sonntags fülle, leeren sich rasant. Das Fell des Pudels sollte schon wieder geschoren werden. Ständig ist Montag.

Nichts besonderes heisst: Die täglichen Ängste, nicht zu genügen. Die allgegenwärtigen Schmerzen in verschiedenen Gelenken. Der Lauf hinter den Dringlichkeiten her.

Nichts besonderes heisst: Schüler beobachten, Notizen, Berichte und Anträge verfassen.

Nichts besonderes heissen auch die täglichen Hunderunden, von denen ich täglich alltägliche Kleinigkeiten mitbringe. Kleinigkeiten, die den Tag als einzigartig markieren.

Ein Beitrag zum Projekt von Ulli Gau zum Thema Alltag.
https://cafeweltenall.wordpress.com/2018/10/19/alltag-eine-idee/